Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs konnte man bislang bereits als ange-spannt bezeichnen. Mit seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 (Az.:2 BvR 2735/14) hat das höchste deutsche Gericht etwas getan, was der Europäische Gerichtshof zuvor alleine für sich in Anspruch genommen hat: Es hat europäisches
Recht ausgelegt und damit der europäischen Haftbefehl zwar nicht gerade aufgehoben, aber seine ungeprüfte Anwendung deutlich in Frage gestellt.
Im Urteil zum Vertrag von Lissabon hatte das Gericht bereits angedeutet, dass es einen unverzichtbaren Kern der Verfassung gibt (die sogenannte Verfassungsidentität), an der das Gericht auch das europäische Recht messen wird. Hierzu rechnet das Verfassungsgericht insbesondere das Schuldprinzip, das vor allem voraussetzt, dass das Gericht sich durch die Anhörung
der Angeklagten Person ein Bild von der Schuld des Täters machen kann. Italien ist hier jedoch keine Ausnahme und es gibt zahlreiche Mitgliedstaaten der EU, die eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten vorsehen.
Auch das europäische Recht sieht für die Auslieferung nach einem Urteil gegen einen Abwesenden besondere Schutzvor-kehrungen vor. Im Rahmenbeschluss zum europäischen Haftbefehl ist die Auslieferung dabei insbesondere davon abhängig, dass die Person von dem Strafverfahren informiert war und eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich ist. Das besondere bei diesem Urteil: Das Bundesverfassungsrecht hat diese Voraussetzungen einer europäischen Rechtsvorschrift geprüft
und beschlossen, dass diese im konkreten Fall offensichtlich nicht vorliegen, da der Verurteilte weder informiert war, noch
ein weiteres Beweisverfahren mit Sicherheit stattfinden wird. Es hat damit eine Rechtsauslegung von europäischem Recht vorgenommen, die der Europäische Gerichtshof grundsätzlich für sich allein beansprucht.
Jedenfalls für Abwesenheitsurteile hat damit das Bundesverfassungsgericht einen nicht zu unterschätzenden Rechtsschutz gegen Auslieferungen geschaffen. Der Satz des Gerichts in dem Beschluss, „die deutsche Hoheitsgewalt darf die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen“, macht dabei deutlich, dass das Gericht eine ungeprüfte und automatische Auslieferung wohl auch in Zukunft nicht akzeptieren wird, wenn kein umfassender Rechtsschutz gegen ein Abwesenheitsurteil vorgesehen ist. Für Betroffene könnte sich hier durchaus eine neue Verteidigungsmöglichkeit entwickelt haben.